Wer bin ich? Wie nehmen andere mich war? Fragen nach der Identität und dem eigenen Platz in der Gesellschaft plagen viele Jugendliche. Gleichzeitig sind Jugendliche mit zahlreichen Erwartungen konfrontiert: von der Familie, der Schule, dem Freundeskreis und sogar sich selbst. Dabei ist es quasi vorprogrammiert, dass diese Erwartungen sich früher oder später widersprechen.

Die Erfahrung, dass man von außen Rückmeldungen und Zuschreibungen bekommt, denen man nicht zustimmt oder die man nicht akzeptieren möchte, kann weitere Fragen aufwerfen oder verletzend sein. Es entsteht eine Verwirrung: warum werde ich von meinen Mitmenschen anders wahrgenommen, als ich mich selbst sehe? Wie bin ich wirklich? Derartige Fragen können zur Identitätsfindung von Jugendlichen gehören, aber auch am Anfang einer Identitätskrise stehen, wenn die Antworten nicht eindeutig und zufriedenstellend sind und die Jugendlichen keine Unterstützung bei ihren Identitätsfindungsproblemen bekommen.

Warum die Identitätsfindung für Jugendliche so wichtig ist und wie man sie dabei am besten unterstützen kann, verraten wir in diesem Beitrag.

 

Identitätsbildung als Entwicklungsaufgabe des Jugendalters

Um dem auf den Grund zu gehen, schauen wir uns erstmal Identität aus entwicklungspsychologischer Perspektive an. Die beiden maßgeblich prägenden Theorien hierfür stammen von Erik H. Erikson und Robert J. Havighurst. Ihnen zufolge gehört die Identitätsbildung zu den wesentlichen Herausforderungen des Jugendalters. Identität hat dabei einerseits individuelle Komponenten, ist andererseits aber auch in einen sozialen Kontext eingebettet, beispielsweise durch Gruppenzugehörigkeiten, die die Identität mitprägen. Ein gesundes Identitätsgefühl könne dann entstehen, wenn die Selbstwahrnehmung eines Jugendlichen und die Fremdwahrnehmung von außen sich nicht widersprechen, sondern eher überschneiden. Hierbei ist eine gewisse Gleichheit und Kontinuität notwendig, die auch vom Umfeld so wahrgenommen werden soll, um das Selbstbild über den Lauf der Zeit aufrechterhalten zu können und ein Identitätsgefühl zu entwickeln.

Weitere Bestandteile der Identitätsentwicklung sind die Berufsorientierung und die Entwicklung eines Wertesystems und ideologischen Haltungen. Diese gilt es auch im eigenen Leben und als Mitglied der Gesellschaft anzuwenden. Doch auch für diese Explorationserfahrungen und zur Selbstfindung notwendige Interaktionen in Gruppen braucht es Räume außerhalb des Familienhaushalts, die oftmals durch die Schule ermöglicht werden. Durch das Einnehmen sozialer Rollen entstehen die Rahmenbedingungen, in denen Jugendliche feststellen können, ob ihre Selbstwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung übereinstimmt.

 

Keine starren Erwartungen aufzwingen

Allerdings sind nicht alle Verpflichtungen im Jugendalter freiwillig. Zum einen besteht die Schulpflicht, daher kann eine Abneigung gegen das schulische Wertesystem bestehen. Aber auch die Regeln einer Familie und der sozialen Gruppen, der sie angehört, können sich die Jugendlichen in der Regel nicht aussuchen. Um mit den Widersprüchen der teils freiwillig, teils unfreiwillig angenommenen Normen und Regeln umzugehen, kann die Strategie der Rollendistanz angewandt werden. Um die anderen Teile ihrer Identität, die sie wertschätzen, nicht vollständig zu ignorieren, distanzieren sich Jugendliche von ihnen zugewiesenen Rollen und trennen diese Rolle von ihnen als Individuum. Dabei weisen sie diese Rolle nicht ab, sondern gehen mit ihr auf eine Art und Weise um, die die eigene Selbstverwirklichung nicht untergräbt. Dabei möchten sie ihr ganzheitliches Selbst bewahren, obwohl sie mit anderen Rollenerwartungen unfreiwillig konfrontiert werden.

Als Außenstehende kann man es Jugendlichen leichter machen, indem man ihnen keine starren Rollenerwartungen aufzwängt, sondern Raum für die ganzheitliche Entfaltung und Persönlichkeitsaspekte aus anderen Lebensbereichen lässt. Es sollte möglich sein, eigene Interessen zu verfolgen. Auch bei Fremdzuschreibungen sollte man sich eher zurückhalten, und den Jugendlichen wann immer möglich die Option geben, für sich selbst zu sprechen und sich selbst zu definieren. Insbesondere negative Zuschreibungen sollten vermieden werden, um das Selbstgefühl nicht zu verletzen.

 

Anerkennung

Um ein sicheres Identitätsgefühl zu entwickeln ist es enorm wichtig, Anerkennung und Zugehörigkeit zu erfahren. Die eigenen Gruppenzugehörigkeiten können Anerkennungserfahrungen unter Gleichgesinnten ermöglichen. Allerdings lässt sich schon erahnen, welche Probleme auf Jugendliche mit Diskriminierungs- oder Ausgrenzungserfahrung zukommen. Mobbing und Diskriminierung drücken schließlich verwehrte Anerkennung oder gar Verkennung aus, worunter die Betroffenen erheblich leiden können, da die Fremdwahrnehmung ihnen ein negatives, erniedrigendes Bild rückmeldet und somit einem sicheren Identitätsgefühl im Weg steht. Sowohl fehlende Anerkennung als auch Diskriminierung können somit identitätsbedrohend sein und in manchen Fällen einen internalisierten Selbsthass bei Jugendlichen auslösen und ihr Selbstbewusstsein zerstören. Gerade deshalb ist es auch wichtig, Merkmale und Eigenschaften, die von Aggressor:innen bei Mobbing und Diskriminierung aufgegriffen werden, privat positiv zu besetzen, beispielsweise durch vorbildhafte Identifikationsmöglichkeiten und Empowerment, sodass den Jugendlichen bewusst wird, dass es auch anders geht und die Aggressor:innen im Unrecht sind.

Jugendliche, deren Identität keine Anerkennung erfährt, werden versuchen, Situationen, in denen ihre Bedürfnisse missachtet werden, zu verlassen oder generell zu vermeiden. In Situationen, wo ein Rückzug nicht möglich ist – beispielsweise durch die Schulpflicht –, wird höchstwahrscheinlich ein inneres Absondern und Ignorieren einsetzen, und die Motivation wird schwinden. Die Frustration, die dann an Stelle der Motivation steht, rührt auch daher, dass eigentlich alle Individuen ihre Identität ohne regelmäßige Zurückweisungen ausleben wollen, es ihnen in diesen Kontexten aber verwehrt wird. Dieser Rückzug verdeutlicht, wie wichtig es ist, auch in der Schule identitätsfördernd zu arbeiten, um die Jugendlichen nicht frustrieren zu lassen und sie für das Unterrichtsgeschehen empfänglich zu machen – schließlich wollen sie auch da ihre Interessen und Lebenswelt vertreten sehen und keiner Herabwürdigung dieser ausgesetzt sein.

 

Identitätsarbeit im Alltag

Weiterhin kann man Jugendliche auch außerhalb der Schule durch Formen alltäglicher Identitätsarbeit unterstützen, gerade als Elternteil. Das kann darin bestehen, die Verknüpfung der unterschiedlichen Identitätsaspekte anzuregen und auch die unterschiedlichen Selbstentwürfe (vergangene, aktuelle und zukunftsgewandte) in einen Zusammenhang zu bringen, sodass Jugendliche die Kontinuität und Kohärenz ihrer selbst erkennen. Dadurch bekommen sie auch das Gefühl, dass sie ihr „Ich“ aus anderen sozialen Kontexten nicht verstecken müssen: das Freundes-Ich kann mit dem Schul-Ich und Familien-Ich koexistieren, auch wenn sie sich womöglich anders verhalten. Alle Bestandteile machen schließlich das Gesamtbild der Identität aus. Zudem sollten diese äußeren Welten auch mit dem Innenleben der Person in Einklang gebracht werden. In der inneren Welt entsteht letztlich auch eine eigene Ausprägung der verschiedenen Merkmale.

 

Identitätskrisen unterstützen: Orientierung und Identifikationsflächen bieten

Neben Mobbing und Diskriminierungserfahrungen können auch Unsicherheiten bezüglich der Zukunft das Identitätsgefühl der Jugendlichen ins Schwanken bringen. Die Entscheidung für einen beruflichen Weg, bzw. zunächst oft eine Ausbildung oder ein Studium, stellt die Jugendlichen vor die Frage, wie die Zukunft ihres Ichs aussehen soll. Wenn die Antwort nicht leicht fällt, kann das zu Beunruhigung und Zweifeln führen. Daher kann man auch hier Beiseite stehen, indem man berufliche und allgemeine Orientierung bietet und Identifikationsflächen und Vorbilder schafft. Auch das Ausprobieren verschiedener Tätigkeiten sollte im Sinne der Selbstexploration im Rahmen von Praktika oder Hospitationen möglich sein.

 

Fazit

Ganz grundlegend ist es bei der Identitätsförderung schonmal ein Gewinn, wenn die Jugendlichen nicht in eine Krise geprägt von starken Selbstzweifeln oder sogar Selbsthass verfallen. Aber auch über das Mindeste hinaus gedeihen Jugendliche, wenn sie Anerkennung erfahren und das Gefühl bekommen, nicht fehl am Platz zu sein in der Gesellschaft. Sie sollten merken, dass sie sich selbst oder Teile ihrer Persönlichkeit nicht verstecken müssen und dass sie mit ihren Erfahrungen und Interessen einen wertvollen Teil zur Gemeinschaft beitragen können – egal ob Zuhause, in der Schule oder im Freundeskreis.

 

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