Ein Jugendroman über ein Demokratieprojekt in der Schule

Zwei neunte Klassen aus Köln fahren gemeinsam auf Klassenfahrt auf die Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz. Das ist an sich nichts Besonderes. Doch die Klassenlehrerin der Klasse, Frau Klein, hat sich für den Aufenthalt etwas Besonderes ausgedacht: ein Demokratieprojekt. Dabei gründen die Schülerinnen und Schüler zwei Parteien - die eher konservative rote Partei und die etwas liberalere blaue Partei. Rasch sind die Schülerinnen und Schüler aufgeteilt und die jeweiligen Vorsitzenden gewählt. Doch dann gerät das Projekt zunehmend aus dem Ruder …

Rot oder Blau

Mit Rot oder Blau - du hast die Wahl hat der Kölner Autor Manfred Theisen einen Roman verfasst, der in Zeiten von Fridays for Future und YouTubern wie Rezo nicht aktueller sein könnte.

Unsere Autorin Alexandra v. Plüskow-Kaminski hat die Unterrichtsmaterialien zu der Lektüre für die Jahrgangsstufen verfasst und den Autor in diesem Kontext zu seinem Buch interviewt.

„Schule ist Politik“

Ein Gespräch mit dem Autor Manfred Theisen

Die Fragen stellte Alexandra von Plüskow-Kaminski

In Ihrem Buch „Rot oder Blau - ihr habt die Wahl“ erzählen Sie von einem Demokratie-Projekt, das eine engagierte Lehrerin mit ihrer neunten Klasse unternimmt. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen? Kennen Sie ähnliche Projekte?

Genau dieses Experiment/Spiel habe ich noch nicht in dieser Form durchgeführt. Aber ich war exakt an dem Ort, an dem auch das Buch spielt - und habe dort mit Schülern zum Thema Demokratie ge-schrieben. Häufig kommen Schulen oder Institutionen auf mich zu - und hin und wieder nehmen wir politische Themen in den Mittelpunkt unserer Arbeit, schreiben dazu, führen auf und ab und an experimentieren wir auch in die Richtung von „Rot oder Blau“. Tatsächlich habe ich mal mit einer Klasse in Bergheim ein ganz ähnliches Projekt durchgeführt und wir haben mit blauen und roten Bändern gearbeitet. Das Experiment habe ich später an der Uni Lehramtsanwärtern vorgestellt.

Was hat Demokratie, was hat Politik mit Schule und Schülerinnen sowie Schülern zu tun?

Schule ist Politik. Wenn wir es hier nicht schaffen Menschen ans eigenständige Denken zu bringen, politisch aktiv zu werden und über Staat und Gesellschaft zu reflektieren, dann haben wir verloren. Erziehung zur Neugier muss her. In der Schule werden die Werte vermittelt. Je mehr wir das Leben aus der Familie in die Institutionen wie Kindergarten und Schule – häufig schon Ganztagsschule - verschieben, desto wichtiger wird die politische Bildung. Zurzeit liefert die Schule hier noch nicht genug. Aber es geht los. Manchmal darf ich in Schule mit Schülern einfach diskutieren. Dann schreiben sie plötzlich freiwillig, machen Dialoge und Theater. Dabei sollte es aber nicht dabei stehen bleiben. Wir müssen uns die Frage stellen, wie die Hierarchien in unserer Schule sind. Wie arbeitet das Kollegium? Wann haben wir das letzte Mal jemanden von Außen in unsere Klasse gelassen? Einen Andersdenkenden? Welches Bild geben wir als Lehrer ab? Als Eltern? Was für eine Gesellschaft leben wir den Kindern und Jugendlichen vor? Es gibt so viele Fragen. Wir brauchen diese Fragen für unsere Demokratie. Die Gesellschaft ist im Wandel, und der wird sich noch beschleunigen. Bald schon werden wir den Maschinen kaum noch das Wasser reichen können. Welche Identität muss der Mensch dann ausbilden um sich nicht überflüssig zu fühlen? Soll er zum Konsumidioten werden? Wie sollen wir uns beschäftigen? Mit Fernsehen? Mit PS4? Mit Lesen? Ich weiß es noch nicht. Schule ist sehr träge, daher müssen diese Themen jetzt angedacht werden und schon in einigen Jahren Konsequenzen haben. Vertrauen und Teamfähigkeit, Freundschaft und Mitempfinden, dass brauchen wir. Literatur und Malerei, Theater und Film, das können nur wir Menschen. Das hat schon Jack Ma 2018 auf dem World Economic Forum gesagt. Denn eine Maschine wird bald eine Maschine bauen. Und wir? Was sind wir? Wozu sind wir dann noch? Doch das wird der nächste Schritt. Wir müssen in Bewegung bleiben. Obwohl wir manchmal als Lehrer oder Eltern müde sind.

Max, der Kandidat der Roten, zeigt sich in der Geschichte mit narzisstischen Zügen…

Wir erzeugen in unserem System Narzissten. Früher saß der Ödipuskomplex auf der Couch beim Psychiater, heute ist es Herr Narziss. In der Politik sind toxische Narzissten immer häufiger in führenden Positionen. Also lag es nahe, eine der Hauptfiguren auch mit einem gehörigen Maß von Narzissmus auszustatten. Es wird im Buch auch einmal kurz kommentiert und erklärt und der Aspekt des Gaslightings eingeführt, der ja eng mit Fake News zusammenhängt.

Rezo, ein junger YouTuber, äußert sich in der letzten Zeit öfter zu politischen Themen. Ist hier ein Wandel bei unseren Jugendlichen zu beobachten?

Die Diskussion über die Reform von Artikel 13 hat die politische Jugendkultur befeuert. Es hat die YouTuber einfach aufgeregt, dass ihre fünf Millionen Stimmen – zu denen ich selbst zähle – nicht berücksichtigt, eher abgeheftet wurden. Das sorgte für Unmut. Man stelle sich vor, fünf Millionen Senioren hätten eine solche Petition unterschrieben, das politische Deutschland wäre Amok gelaufen. Genau da ist der Funken entstanden und entzündet immer mehr YouTuber. Leute wie Max im Roman, werden plötzlich wach und politisch.

Worauf sollten Jugendliche und ihre Eltern und Lehrkräfte im Umgang mit den sozialen Medien Ihrer Meinung nach achten?

Dass Eltern und Lehrer bei den Inhalten und den Machern auf dem Laufenden bleiben, aber sich nicht anbiedern. Man muss Rezo nicht gut finden, aber es ist traurig, dass er in der Erwachsenenwelt erst Beachtung fand, als er die CDU zerstören wollte. LeFloid wurde ja auch erst beachtet als er Angela Merkel interviewte. Gronkh, Dner, ConCrafter, Montana Black oder oder sollte man kennen so wie Erwachsene früher Thomas Gottschalk kennen mussten. Man musste ihn ja nicht mögen. Soziale Medien sind nichts Besonderes. Sie bieten nur ein paar neue Möglichkeiten zur Information, zum Tratschen und Klatschen, und natürlich zur Propaganda. Bei letzter wird es extrem problematisch. Eine Chance ist, dass nun die Mittel der Meinungsäußerung besser geworden sind, flexibler. Plötzlich können auch Menschen, die sonst den Sprung in die Zeitung, ins Radio oder Fernsehen nicht geschafft hätten ihre Meinung äußern. Ob sie gehört werden oder ob das Gesendete hörens- und sehenswert ist, sei erstmal dahingestellt. Was die Jugendlichen jedenfalls brauchen ist Kompetenz, egal ob sie als Sender oder Empfänger agieren. Jeder hat die Chance ein bisschen Journalist zu sein. Und trägt damit auch Verantwortung. Aufklärung und Respekt sind die zentralen Begriffe. Und sie sollten wissen, wie Firmen in einer App Inhalte verstecken, wie über Medien manipuliert wird, warum es gefährlich sein kann, Politikern auf Twitter zu folgen und sich darauf zu verlassen, was sie sagen. Zurzeit verheddert sich die Schulgesellschaft in dem Problem Cybermobbing. Schon oft war ich in Schulen und hatte genau das vor der Brust und musste erklären, wie Accounts bei WhatsApp und Co. im Mobbingfall gesperrt werden können. Mehr und mehr wird aber klar, wir brauchen noch ganz andere Kompetenzen, die nicht so einfach zu erlangen sind, die mit den Medien und Demokratie und Gesellschaft zusammenhängen. Wie manipuliert mich der kleine Kasten Smartphone? Wie wähle ich eine andere Suchmaschine statt einfach Google zu nehmen, weil es da ist und weil mein Nachbar es auch nutzt? Das sind die Fragen. Die Kinder bekommen ein Handy und glauben, sie wissen alles darüber, weil sie es bedienen können. Das ist Quatsch! Sie können so gut wie nichts mit dem Teil machen. Sie wissen nicht, wie sie von den Machern dazu gebracht werden, diese oder jene App anzuklicken und warum sie sich so konform verhalten. Sie haben keine Freiheit, weil sie nur benutzen, was ihnen vorgegeben wird. Doch dagegen können wir etwas tun. Alle Eltern, alle Lehrer. Wir müssen den Kasten nur für uns selbst erst einmal wirklich entdecken und können dann unser Wissen weiter geben oder zumindest mitreden. Die Kinder sind oft naiv, sie nutzen die Medien lediglich und werden so zu Usern. Schon im Wort steckt das Problem. User ist einer, der an der Oberfläche bleibt. Wir können ihnen mehr Wissen darüber geben und wir können ihnen Möglichkeiten anbieten, die sie zu aufgeklärten Menschen macht, die Medien nicht nur nutzen, sondern verändern und selbstbestimmt bleiben.

Wer ist für Sie die Heldin oder der Held in Ihrer Geschichte?

Max. Er trägt starke narzisstische Züge, aber er ändert sich. Ich mag es, wenn Narzissten Einsicht zeigen. Weil es eine Aufgabe ist. Aber sie können sich ändern, nicht nur im Buch. Und meist ist es die Liebe, die den Hebel in die richtige Richtung bewegt.

Und - nicht zuletzt: Halten Sie das Projekt von Frau Klein für geglückt? Welche Chancen, welche Risiken hatte es Ihrer Meinung nach?

Sie hat am Ende Glück gehabt, weil es zur Katastrophe kam. Ohne die Katastrophe hätten die entscheidenden Figuren keine Läuterung erfahren. Sie hat auch Glück gehabt, dass sich die Richtigen verlieben. Aber es braucht Glück im richtigen Leben. Du kannst halt nicht alles vorprogrammieren. Ich habe lange am Ende gehadert. Ist der Mensch gut, ist er wandelbar, oder kann er die Kurve kriegen? Normalerweise haben meine Geschichten ein offenes Ende. Diesmal ist es anders. Ich liebe es. Weil ich das Projekt von Frau Klein unbedingt unterstützen möchte. Und auch Lehrer, die was riskieren. Das Leben ist schon Vollkasko genug, wir brauchen Unfälle und Abenteuer. Und die Story ist ein Abenteuer und ein Abgrund und der Schluss, den ich hier nicht verraten möchte.

 

Kurzvita

Manfred Theisen, Germanist, Anglist und Politologe, forschte für das deutsche Innenministerium in der Sowjetunion und recherchierte für das Auswärtige Amt und Goethe-Institute im Nahen Osten und Afrika. Er war leitender Redakteur einer Tageszeitung und arbeitet seit 2000 als freier Autor immer wieder eng mit Jugendlichen zusammen. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet.

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