Ein Roadtrip von Tania Witte

Vor rund zwei Wochen ist das Buch „Marilu“ von Tania Witte herausgekommen. Es handelt sich um ein besonderes Buch - um einen Roadtrip, den die Protagonistin Marilu ihrer Freundin Elli und ihrem Bruder Lasse auferlegt, um ihnen zu zeigen, was das Leben alles zu bieten hat. Unsere Autorin Alexandra v. Plüskow-Kaminski hat sich im Gespräch mit der Autorin des Buches Tania Witte auf die Spur von Marilu begeben.


Die Handlung

Elli findet ihre Kette in einem Umschlag, zurückgeschickt von Marilu. Und was das bedeutet, weiß Elli genau. Kennengelernt haben sich die beiden jungen Mädchen vor rund zwei Jahren im „Sonnenblick“, einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Marilu ist dort aufgrund ihrer bipolaren Erkrankung und Elli ist dorthin gekommen, da sie unter einer Erschöpfungsdepression litt. Am letzten gemeinsamen Abend in der Klinik hat Elli Marilu ihre Kette geschenkt - und Marilu hat ihr gesagt, dass sie ihr diese Kette zurückschicken würde, wenn sie „es“ täte. Damit deutet sie einen möglichen Suizid an. Dem Anhänger liegt ein Brief von Marilu geschrieben mit orangener Tinte anbei: „Es ist noch nicht zu spät. Such mich! Nein: Finde mich!“ Und mehr noch: Lasse, Marilus Bruder soll ihr helfen. 
Die beiden machen sich auf den Weg zu einem Gasthaus mitten in der Natur und folgen nun fieberhaft Marilus Spuren. Diese stellt ihnen Aufgaben, die sie nach und nach - gemeinsam mit Tom, Ellis Freund, und Jule, einer coolen jungen Frau - lösen sollen. Diese Aufgaben führen sowohl Elli und vor allen Dingen auch Lasse an die eigenen Grenzen.
Um es vorweg zu nehmen: Das Buch findet ein positives Ende und bleibt bis zur letzten Seite spannend. Aber es ist sinnvoll, die Lektüre zu begleiten. Da es unter anderem um Themen wie Suizid und Selbstverletzung geht, sollten Jugendliche und auch ihre Eltern oder Lehrkräfte darauf achten, ob sie sensibel auf die Themen reagieren.


Marilu, der „Flipperball“ und Ellis Angst vor dem Scheitern

Die Autorin und Diplom-Pädagogin Tania Witte schafft mit den beiden Mädchen Marilu und Elli den Weg raus aus der Tabuzone der psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen. Die beiden Mädchen blicken zurück auf ihre gemeinsame Zeit im „Sonnenblick.“ Denn sie fühlten sich beide in sich selbst gefangen. Elli erklärt diese Gefangenschaft so: „Wir waren beide gefangen. Ich, weil ich mir einbildete, dass etwas Gefährliches, Schwarzes in mir lebte, das, sobald ich die Kontrolle aufgeben würde, alle Menschen, die ich liebte in den Abgrund reißen würde - Marilu, weil sie es von sich wusste. Sie wusste, dass in ihr etwas schlummerte, das sie beherrschen musste, um den Menschen, die sie liebte, nicht wehzutun.“ (S. 206)

So eng die beiden Mädchen sich im Sonnenblick waren, so haben sie sich nach dieser Zeit doch wieder aus den Augen verloren. Elli hat daran einen maßgeblichen Anteil. Denn nach ihrer Zeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bricht sie den Kontakt zu Marilu ab und wendet sich ihrem Freund Tom zu, der das Leben ausschließlich von der positiven Seite sieht. Durch ihren Brief mit dem Anhänger bringt Marilu Elli dazu, den Kontakt wieder aufzunehmen.

„Marilu“ ist unter anderem während der Zeit entstanden, in der Tania Witte als Stadtschreiberin von Mannheim tätig war. Als siebte Stadtschreiberin zog sie für drei Monate in das Turmzimmer der alten Feuerwache in Mannheim und verwirklichte ihre Idee, einen spannenden Roadtrip zu schreiben und gleichsam auf das bedeutsame Thema der psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen aufmerksam zu machen. Unter anderem hatte sie dort die Chance, in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie zu hospitieren und zahlreiche Fragen zu stellen.

Eindrücklich stellt sie dar, unter welchem Druck Jugendliche leiden, wenn sie perfekt sein möchten und Angst haben, zu scheitern. Auch Marilus Auf und Ab, ihre unbewussten Manipulationen und das Tempo, in dem sie lebt, wird in dem Buch deutlich. Lasse bringt es auf den Punkt: „Ich hab das Gefühl, dass ich keine Ahnung hab, wer meine Schwester überhaupt ist.“
Das Thema der psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter ist also ein Thema, dem sich auch Eltern und Lehrkräfte stellen sollten und mit dem wir sensibel umgehen sollten - gerade auch mit Blick auf die Aktualität durch die Corona-Pandemie.


Schmerz als Wut getarnt

Gemeinsam mit Elli macht sich Lasse, Marilus Bruder, auf die Spurensuche nach Marilu. An manchen Stellen gerät er an seine Grenzen. Sei es, dass er trotz seiner Höhenangst von ihr aufgefordert wird, eben deswegen Höhen zu überwinden. Oder, dass er selbst seine innere Grenze spürt. Seinen Schmerz tarnt er als Wut. An einigen Stellen im Buch bricht es aus ihm heraus. Etwa, wenn er sagt, dass sich sein „ganzes Scheißleben (...) um sie“ dreht. Oder wenn er seinen Wunsch so formuliert: „Aber manchmal wünschte ich mir, ich könnte einmal nicht tun, was sie will. Mich einmal nicht erpressen lassen.“

Mit Lasse schafft Tania Witte sehr einfühlsam einen Protagonisten, der stellvertretend für die von der Diplom-Psychologin und Autorin Jana Hauschild als „übersehene Geschwister“ bezeichneten Geschwisterkinder psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher steht. Lasse hat in seiner Familie stets die Rolle eingenommen, zu funktionieren. Während des Roadtrips spürt er zunehmend seine Grenzen, seine Wut bricht aus ihm heraus, und er kann ganz klar formulieren, worunter er selbst leidet.

Eines ist sicher, „Marilu“ regt zum Dialog an, denn angesprochen werden wir alle. Jule, die erst später zu der Spurensuche dazu kommt, zeigt, dass jede und jeder von uns Wunden mit sich trägt. Und genau deshalb kommt es darauf an, wie wir als Individuen und auch als Gesellschaft damit umgehen. Tania Witte ist der festen Überzeugung, „dass hinter jeder Haustür eine Geschichte wartet ... und eigentlich wollen alle Menschen nur gehört werden.“ Also gilt es, zuzuhören: Marilu, Elli, Lasse, Tom und Jule, ihren Eltern und ihren Freunden und auch ihren Lehrkräften. 

Marilu - Tania Witte.

 

Marilu. Arena Verlag. 2021
Ausgezeichnet mit dem Mannheimer Feuergriffel.
Die Schriftstellerin, Diplom-Pädagogin, Journalistin und Spoken-Word-Performerin Tania Witte lebt in Berlin und Den Haag (Niederlande). Im Jahr 2019 erhielt sie den Mannheimer Feuergriffel für Jugendliteratur. Neben Marilu ist im Arena Verlag „Die Stille zwischen den Sekunden“ erschienen. Als Ella Blix hat sie gemeinsam mit Antje Wagner „Der Schein“ und „Wild. Sie hören dich denken“ veröffentlicht.


Jana Hauschild. Übersehene Geschwister. Das Leben als Bruder oder Schwester psychisch Erkrankter. Beltz Verlag. 2019

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