Leider ist das Wissen um eine Rechenschwäche oder Dyskalkulie noch längst nicht so verbreitet wie das Wissen um eine LRS/Legasthenie. Noch immer gibt es Mythen, die weitergetragen werden, sich konstant in den Köpfen halten und nicht mehr den aktuellen Erkenntnissen entsprechen. Wir räumen mit diesen Mythen auf und geben Tipps zur Förderung.

Dyskalkulie/Rechenschwäche - endlich gut informiert!

Aufklärung ist wichtig

Die Unsicherheit von Lehrern, Eltern und Betroffenen ist groß. Viele Lehrer fragen sich, wie kann ich innerschulisch am besten unterstützen und wie wende ich die Verwaltungsvorschrift an? Wie kann ich meinen pädagogischen Ermessensspielraum nutzen?
Da sich einige Fragen in meiner Beratung immer wieder häufen, möchte ich heute gerne meine TOP 10 Mythen Dyskalkulie vorstellen und diesbezüglich aufklären. Einiges bezieht sich dabei auf Baden-Württemberg (dann steht ein BW dahinter). Vieles ist aber auch allgemeingültig.

TOP 1 Ein Nachteilsausgleich hört nach Klasse 4 auf (BW)

Das ist leider nicht korrekt, auch wenn das viele Lehrer, Eltern und Andere standhaft glauben. Ich finde es so wichtig, dass Eltern über den jeweiligen Erlass Ihres Bundeslandes Bescheid wissen. Denn leider kann nicht immer davon ausgegangen werden, dass Schulen bzw. Lehrer das nötige Hintergrundwissen haben.

RICHTIG: Ein Nachteilausgleich ist in allen Klassenstufen möglich. Auf der Seite eines Schulamtes in Baden-Württemberg war lange Zeit genau diese Information (dass ein Nachteilsausgleich nach Klasse 4 aufhöre) zu finden. Auf mein Anregen hin, ist diese Information nun gelöscht. Leider findet sich dort nun gar keine Information zu Dyskalkulie/Rechenschwäche mehr. Ich bleibe am Ball und hoffe, auf eine zeitnahe Anpassung. Für mich und andere Beteiligte, denen das aufgefallen ist, entsteht nun der Eindruck, als würde man innerschulisch mit einer Dyskalkulie/Rechenschwäche niemals zu tun haben. Sie gäbe es ganz einfach gar nicht. In meinen Augen das falsche Zeichen. Das Rad muss nicht neu erfunden werden, es gibt einige Schulämter, die viele nützliche Informationen zum Thema Rechenschwäche notiert haben, sie verlinken manchmal auf den jeweiligen Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie oder für BW auf die Informationen in Modul B vom Landesinstitut für Schulentwicklung.

TOP 2: Viel Üben bringt viel

Immer wieder bekommen Schüler zu hören „jetzt üb doch endlich mal mehr“. „Würdest du mehr üben, wären deine Noten in Mathe besser!“ Liegt es wirklich am fehlenden Üben? NEIN!

Schüler mit Rechenschwierigkeiten üben sogar richtig viel. Sie üben und üben und stecken viel Energie in die täglichen Hausaufgaben. Oft sitzen Sie mit den Eltern stundenlang am Nachmittag und rechnen Aufgabe für Aufgabe. Manchmal bis in die Müdigkeit hinein.

Leider wird jedoch oft am Schulstoff geübt und nicht an den Basiskompetenzen. Das mathematische Haus muss vom Fundament her aufgebaut werden. Wenn sich Lücken in den früheren Schuljahren zeigen, müssen diese erst geschlossen werden, bevor die nächste Stufe erklommen werden kann. Lassen Sie daher eine Förderstandsdiagnostik bei einem erfahrenden Lerntherapeuten durchführen und bekommen so Tipps für die weitere Unterstützung in der Schule oder daheim.

TOP 3 Kommt die Diagnose in der Abschlussklasse, gibt es keinen NTA mehr

Ein NTA ist immer möglich! Zu jedem Zeitpunkt. Leider waren sowohl Schulamt als auch Beratungslehrer anfangs anderer Meinung und lehnten einen Nachteilausgleich in der Abschlussklasse (Werkrealschule) ab. Die Eltern wurden schriftlich informiert, dass ein NTA in der Abschlussklasse nur gewährt werden kann, wenn die Diagnose schon in einer der früheren Klassen gestellt worden wäre.

Für die Eltern kam diese Info überraschend, denn nach Artikel 3 GG ist ein Nachteilsausgleich immer zu gewähren und auch die Verwaltungsvorschrift lässt einen Nachteilsausgleich in höheren Klassen zu. Der besagte Schüler hatte schon jahrelang Schwierigkeiten in Mathematik, leider wussten die Eltern nicht, dass es analog zu einer LRS auch eine Rechenschwäche/Dyskalkulie gäbe. Auch die Lehrer haben den Schüler über Jahre hinweg für mathematisch unbegabt gehalten. Als dann die 6 auf dem Zeugnis stand, haben die Eltern die Nachhilfe storniert und mich kontaktiert.

Für den betroffenen Schüler wurde zuerst aufgrund fehlender schulischer Informationslage zur Verwaltungsvorschrift keine Unterstützung angeboten. Daher mein Appell an alle Eltern, informieren Sie sich genau, welche Regelungen zum Nachteilsausgleich es in Ihrem Bundesland gibt, so bekommt ihr Kind die Unterstützung, die es verdient.

Der Weg mit einer Dyskalkulie hört nicht nach Klasse 9 auf. Auch nach dem Schulabschluss ist es wichtig, dass die Betroffenen Unterstützung erhalten, sei es in der Ausbildung, beim Studium oder anderen Herausforderungen.

TOP 4 Das 1×1 üben wir einfach auswendig

Was meinen Sie? Reicht das für ein tieferes Verständnis?

Ich erlebe immer wieder, dass Lehrer und Eltern mir berichten, dass das 1×1 ja doch eigentlich ganz sicher gekonnt wurde. Auf einmal jedoch, war alles wieder weg.

Viele Schüler lernen das 1×1 einfach auswendig, ohne Zusammenhang, ohne Strategie, ohne ein tieferes Verständnis.

TOP 5 Der Knoten wird schon irgendwann platzen

Leider immer noch sehr verbreitet und einer der Mythen der Dyskalkulie, der sich hartnäckig in den Köpfen hält. Abwarten, der Knoten platzt schon irgendwann. Kinder lernen unterschiedlich schnell, von daher ist es manchmal sinnvoll dem jeweiligen Kind etwas mehr Zeit zu lassen. Aber Abwarten ist jedoch nicht immer zielführend. Nicht jedes Kind muss sofort zur Diagnostik und in Klasse 1 eine Dyskalkulie bescheinigt bekommen. Das wäre übereilt. Aber: Wenn auffällt, dass das Kind dem mathematischen Schulstoff nicht mehr folgen kann, sollte gehandelt werden. Mathematisches Wissen baut aufeinander auf und wenn Vorläuferfähigkeiten nicht ausgeprägt sind, kann darauf nicht aufgebaut werden. Die mathematischen Schwierigkeiten ziehen sich dann bis in die höheren Klassen. Je früher innerschulisch unterstützt wird, desto eher hat das Kind die Möglichkeit dem Stoff zu folgen. Daher ist es wichtig, Anzeichen frühzeitig zu deuten und zu reagieren.

Grundsätzlich braucht man auch keine Diagnose. Wenn der Schüler Schwierigkeiten im Mengen- und Zahlverständnis hat, braucht er Hilfe und das zügig, abzuwarten, bis die Lücken immer größer werden, kann oft sehr frustrierend sein. Daher gilt, je früher der Schüler unterstützt wird, desto eher kann der Schüler wieder mit Freude dem Matheunterricht folgen.

TOP 6  Nachhilfe wird es richten

Nachhilfe hilft doch immer, oder?

Leider nicht immer. Was viele nicht wissen, Nachhilfe setzt oft am Schulstoff an und mag für Schüler mit gravierenden Lese-Rechtschreib-oder Rechenschwierigkeiten nicht zielführend sein. Oft benötigt es, eine genau Lernstandsanalyse bzw. Förderdiagnostik, wo im mathematischen Haus ist der Schüler stehengeblieben, was ist aus früheren Schuljahren an mathematischen Basisstoff vorhanden, wo sind Lücken. Genau da setzt dann eine Förderung an.

TOP 7 Dyskalkulie gibt es gar nicht

Haben wir uns das alles nur ausgedacht?

Oft werden auch die Begriffe Rechenschwäche, Dyskalkulie und Rechenstörung durcheinander gebracht. Leider ist es für Außenstehende auch wenig transparent. Mir persönlich ist es egal, wie wir die Schwierigkeiten im mathematischen Bereich nennen. Jedes Kind mit Rechenschwierigkeiten hat unsere Unterstützung verdient, niederschwellig und unkompliziert.

TOP 8 Im Grund-Niveau (Realschule) ist eh alles einfach (BW)

Kurz zur Erklärung, in BW gibt es in der Realschule die Möglichkeit auf 2 Niveaustufen unterrichtet zu werden (ab Klasse 7), auf dem G-Niveau (Grundniveau) und dem M-Niveau (mittleren Niveau). Irrtümlicherweise gibt es Lehrer, die der Meinung sind, dass ein G-Schüler ja schon grundsätzlich auf einem so „einfachen“ Niveau sei, dass er bei einer Dyskalkulie im Fach Mathe nichts weiter tun könne. Aber auch hier macht es Sinn, diesen Schüler mittels eines Nachteilsausgleichs zu unterstützen. Das G-Niveau bezieht sich auf alle Fächer, der NTA dann gezielt auf die Dyskalkulie.

TOP 9 Dyskalkulie-Kinder gehören auf die Förderschule

Für mich eine Aussage, die ich immer wieder höre. NEIN! Sie gehören nicht auf eine Förderschule.  Oft ist es die Unkenntnis darüber, dass Schüler mit einer Dyskalkulie nicht grundsätzlich einen allgemeinen Förderbedarf haben. Sie sind durchschnittlich intelligent und haben nur in Mathematik gravierende Schwierigkeiten. Manchmal kann sich eine Dyskalkulie aber auch auf andere Fächer auswirken, da der Schüler sich selbst nichts mehr zutraut und in eine Negativspirale gerät. Aber fangen wir doch an, an ihn zu glauben und wandeln die Negativspirale in einer Positivspirale um! Ein gut ausgebildeter Lerntherapeut kann Ihnen dabei helfen, die Familie entlasten, die Hausaufgabensituation verbessern und wieder für entspannte Familiennachmittage sorgen!

TOP 10  Bei einer Dyskalkulie = Note 5 in Mathe

Bei einer Dyskalkulie bekommt der Schüler ja eh eine 5 in Mathe auf dem Zeugnis…

…das ist leider kein Scherz und wieder einer der Mythen der Dyskalkulie. Denn die Aussage stimmt so überhaupt nicht. Dieses Statement wurde ohne Hintergrundwissen und ohne den jeweiligen Schüler zu kennen, den Eltern in einer Beratung vor Ort in der Schule kommuniziert. Der Schulwechsel nach Klasse 4 stand an, aber schon während des Gesprächs zeigte sich ab, dass man sich mit dem Thema Dyskalkulie lieber nicht auseinander setzen möchte. Auch teilte man den Eltern mit, dass die Mathe Fachschaft so groß sei und die meisten Lehrer nur Mathe als Nebenfach hätten, eine Schulung zum besagten Thema wäre daher nicht zielführend. Denn ein Technik- oder Physiklehrer würde sich mit Dyskalkulie nicht auseinander setzen. Achja, zur Krönung, natürlich käme neben der 5 in Mathe noch eine 5 in Physik ab Klasse 7 hinzu, also überlegen sie doch lieber, ob ihr Kind an einer anderen Schulform besser aufgehoben werde, als Realschule können wir leider nichts tun.

Wie fühlt man sich da als betroffene Mutter oder Vater? Sie können es sich vorstellen. Dyskalkulie hat nichts mit Dummheit oder Faulheit zu tun und das wird leider immer wieder vergessen. Geben wir doch auch diesen Kinder eine Chance ihren anderen ganz wundervollen Stärken einzubringen.


Ich wünsche mir, dass viele Lehrer, Eltern und andere Interessierte diesen Beitrag lesen, fleißig teilen und bei Fragen auf mich zukommen. Dann schaffen wir es gemeinsam ein paar der Mythen ins Jenseits zu befördern.

Meine Vision: Wir schaffen es, jedem Schüler mit Rechenschwierigkeiten zeitnah, adäquat und niederschwellig zu helfen

Falls Sie sich zum Thema in einem geschützten Rahmen austauschen wollen, gibt es die Möglichkeit, der Facebook Gruppe – immer ein offenes Ohr beizutreten.

 

Bildquelle: Pixabay

  • Yassay